Montag, 17. August 2009

HAR 2009

Was einst als "Sozialistisches Jugendcamp" geplant war, ist heute zum renomiertesten Hacker-Treffen Europas geworden. Das Treffen der Nerds findet alle vier Jahre, an wechselnden Orten und unter mutierenden Bannern statt. Nur eines bleibt immer gleich: Hunderte Hacker machen sich auf den Weg nach Holland. Ein zweiter Beitrag aus der Reihe Tatortpause = Reisezeit.



Im Jahr 2009 nennt sich die elitäre Zusammkunft HAR (Hacking at Random) und nicht wie vier Jahre zuvor, WTH (What the Hack). Das ist aber der herausragendste Unterschied nicht. Vielmehr der: Während die Hacker beim WTH auf freiem Feld Platz nahmen, verteilt sich das HAR im hölzernen Dickicht. So als hätte man sich den Vortrag "The Power Of Decentralization" von James "Mycurial" Arlen vorauseilend zu Herzen genommen, prangt nicht mehr das eine große Hackerzelt im Zentrum, sondern verteilen sich viele Zelte und "Villages" inmitten vieler Bäume.

Wikileaks wohin man sieht
Auffallend prominent ist dieses Jahr das Wikileaks-Team vertreten, deren Hinweis auf ihre Plattform nicht nur das offizielle HAR T-Shirt ziert, sondern deren Vertreter auch den ersten Vortrag der Verantstaltung gestalten. Wikileaks ist ein Wiki Portal, ein basisdemokratischer "Weltgeheimdienst" (wenn man so will), der schwer zugängliche Dokumente öffentlich macht. Primäres Ziel ist, eigenen Angaben zufolge, den repressiven Regimen in China, Russland, Eurasien und Afrika die Zensur zu erschweren und belastende Materialen der Weltöffentlichkeit transparent zu machen.
Themenverwandt ist auch der Vortrag des Tor-Gurus Roger Dingledine ("Why Tor is slow"). Tor ist vornehmlich eine Anonymisierungssoftware, die eigene Spuren im Netz verwischen läßt. Das System wurde bereits 2005 auf dem WTH vorgestellt. Neben der Anonymisierung bietet die Tor-Software aber auch hilfreiche Dienste zur Überwindung nationaler Zensur-Mechanismen. Dass Tor zu diesem Zwecke genutzt wird, verdeutlicht die sprunghafte Nachfrage der Tor-Clients zur Zeit der Unruhen im Iran, sowie in China, als das chinesische Regime für ein paar Tage Google und andere Dienste blockierte.



Die "Zensursula" und der "Freiheit statt Angst" Appell
Den Vorwurf zensurwütig zu sein müssen sich aber nicht allein die totalitären Regime in Afrika und Asien gefallen lassen. Ursula von der Leyen wird ebenfalls mit Kritik bedacht. Allerdings findet nicht jeder Kritik immer geschmackvolle Formen. Das macht kaum jemand besser hörbar, als Oliver Kels und seine Ohrenkrebs-Attacke "Zensursula", ein "Hit", der sich textlich und musikalisch stumpf-brutal in den Gehörgang schraubt. Was da nun der Ursula von der Leyen mehr vorzuhalten ist, mag man kaum beurteilen: die Zensur oder die bemittleidenswerten Protestformen, die diese nach sich zieht. Doch eine Veranstaltung mit entschädigender Wirkung ist die Diskussionsrunde am Freitag Abend, bei der sich Vertreter von Wikileaks, der "Freiheit statt Angst"-Kampagne, der Tor-Guru, kritische Journalisten und andere prominente Köpfe einfinden. Neben der Reproduktion bekannter Argumente auf der Ebene Effektivität ("Wer Kinderpornos will, wird sie zu finden wissen, mit oder ohne Zensur") dehnen die Diskutanden den Zensurbegriff erfreulich weitreichend aus. So macht ein Journalist auf die Zensur durch ökonomischen Druck aufmerksam und erinnert damit, gewollt oder ungewollt, an Marx, der die Presse nur als frei beschreibt, wenn sie auch frei vom Druck ist eine bestimmte Auflage abzusetzen. Ähnlich dehnt den Zensur-Begriff auch der Einwurf des Tor-Gurus Roger Dingledine, Zensur sei nicht nur ein technisches Problem. Es nütze die beste Software nichts, so Dingledine, wenn in Saudi-Arabien die Familie Angehörige abstrafe, konsumierten diese die "falschen" Seiten. Laut Dingledine ist der Kampf gegen Zensur auch mit einer "kulturellen" Auseinandersetzung verbunden.


Hacker beim Lauschangriff: Eines der drei Vortragszelte

Kritik am "Zensurmob"
Um Zensur "von unten" geht es auch im Vortrag von Annelee Newitz ("The Censoring Mob"). Viele Web 2.0 Plattformen bieten den Usern Möglichkeiten Seiten zu melden (Myspace, Facebook, Flickr), Nachrichten zu hierarchisieren (digg.com) oder Texte umzuschreiben (Wikipedia).
Die Gefahren liegen für Newitz auf der Hand. Ein Mob handelt nicht unbedingt intelligent, oder um mit Heiner Müller zu sprechen: "Zehn Deutsche sind dümmer als fünf". Zensur "von unten" ist nach Newitz nicht nur eben auch Zensur, sondern bringt oftmals ein miserables Ergebnis hervor. Newitz zeigt in ihrem Vortrag die einzelnen Zensurmechanismen von Web 2.0 Angeboten und wie sie es selbst vermochte, einen völlig sinnfreien Beitrag auf der Frontpage von digg.com zu plazieren, also wie manipulierbar diese Form der Mitbestimmung ist.

Keinesfalls Science-Fiction: Stilometrie - ein Angriff auf die Anonymität
Der Vortrag "Stilometrie: Mittel gegen Autoren-Erkennungs-Techniken" läßt ein düsterstes Szenario erahnen. Stilometrie ist eine wissenschaftliche Disziplin, mit deren Hilfe ein Text anhand linguistischer Merkmale einem bestimmten Autoren zugeordnet werden kann. Auf diesem Feld gelangen, in den letzten Jahren, erstaunliche Fortschritte - bzw. Rückschritte - will man Anonymität als wertvolles Gut erachten. Schon heute läßt sich Text und Autor mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit zuordnen, ist der Autorenkreis begrenzt und ausreichend Textmaterial vorhanden. In gar nicht ferner Zukunft werden sich Personalchefs oder staatliche Behörden mit Hilfe stilometrischer Software erfolgreich auf die Suche nach Bewerbern, bzw. Bürgern im Netz machen können. Mike Brennan stellt auf dem HAR2009 geteste Methoden vor, um die aktuelle Stilometrie-Software zu überlisten. Bislang, so Brennan, schlägt die Erkennung des Autors fehl, wenn der Autor a) nicht genügend Text liefert oder b) den Stil eines anderen kopiert. Mit anderen Worten: Wer anonym bleiben will, sollte sich im Netz folglich kurz halten und seinen Stil (Wortwahl, Satzlänge, Anzahl der abstrakten Wörter, u.s.w.) regelmäßig wechseln, im Idealfall im Stile anderer Autoren.

Auf Wunsch anonym bleiben. Notwendige Bedingung.

Lockpicking
Grund für überfüllte Vortragszelte sind dieses (wie jedes) Hacker-Treffen in Holland, die Lockpicking-Vorträge. Lockpicking (zu deutsch: Nachschließen) ist die Kunst ein Schloß zu öffnen ohne den Schlüssel zu besitzen. Was sich vorerst unmoralisch anfühlen mag, ist durchaus einer selbstbestimmten Moral unterworfen. Ist das Öffnen eines Hochsicherheitsschlosses gelungen, nehmen die Hacker Kontakt zum Hersteller auf und versprechen mit der Veröffentlichung der entdeckten Sicherheitslücke solange zu warten, bis der Fehler behoben und allen Kunden ein verbesserter Ersatz zur Verfügung gestellt wurde. Verbunden ist damit auch oft die Bitte, ihnen, also den Hackern, das verbesserte Schloss zur erneuten Überprüfung anzuliefern. Zeigt sich der Hersteller aber uneinsichtig, veröffentlichen die Lockpicker die Sicherheitslücke nach Ablauf einer gesetzten Frist. Uneinsichtig zeigte sich wohl auch die deutsche Polizei, deren aktueller und "hochgeheimer" Generalschlüssel zum Öffnen aller Handschellen auf der Website der Hacker herunterzuladen ist und, falls ein 3D-Drucker zur Hand, kostengünstig ausgedruckt werden kann. Ein Highlight des diesjährigen Lockpicking-Vortrages ist auch der Hack mittels "Magic Ring", womit ein elektronisches Hochsicherheitsschloss von Uhlmann & Zacher spielend geöffnet werden kann. Den diesjährigen Lockpicking-Wettbewerb gewinnt Jos Weyers. 87 Sekunden für ein Fünf-Pin-Schloss.

And another winner is ......
Einen Preis verdient auch der Herr des holländischen Innenministeriums - den Preis für den absurdesten Vortrag nämlich. Arnout Ponsionen stellt auf dem HAR2009 die verschiedenen Formen der bürgerlichen Online-Mitbestimmung vor, unter anderem eine Plattform, auf der sich Bürger mit ihren Beschwerden an den lokalen Polizeibeamten wenden dürfen. Was Ponsionen aber unter Schmerzen beklagt ist der Rückgang der e-Participation in den letzten Jahren. Das führt er auf mangelndes Vertrauen zurück und ruft die Hacker-Community dazu auf, bei der Herstellung des Vertrauens in Regierungsorganisationen mitzuwirken. Was immer man von e-Participation halten will, ist das HAR wohl ein wenig erfolgversprechender Ort, um auf derartige Werbung Verständnis zu ernten. Das offenbart auch gleich die erste Wortmeldung. Ein Teilnehmer merkt kritisch an, dass es wohl vielmehr die Aufgabe der Regierung sei Vertrauen zu schaffen und die Polizeigewalt gegen friedliche Studentenproteste, wie sie in Holland stattfand, den Vertrauensbildungsprozess aber, gelinde gesagt, nicht gerade fördere. Der Mitarbeiter des Innenministeriums entgegnet hierzu begrenzt scharfsinnig, gegenseitige Schuldvorwürfe seien nicht konstruktiv, man müsse das Augenmerk auf die Zukunft richten .....

Resume
Das HAR2009 taugte durchaus zu mehr als nur der Überbrückung der Tatort-Sommerpause und wird auch in vier Jahren wieder eines meiner Ausflugziele sein. Für Interessenten sei vermerkt, es ist notwendig sich rechtzeitig um Tickets zu bemühen. Dieses Jahr war das HAR2009 lange vor Beginn bereits ausverkauft. Dank der vorgezogenen Wahl durch Gerhard Schröder ist es aber keine große Leistung mehr, sich an den Termin zu erinnern. Die Veranstaltung findet bis auf Weiteres immer dann statt, wenn in Deutschland Bundestagswahl ist. Eine gelungene Bilderserie, die das Treffen bei Nacht nachfühlen läßt, ist hier zu finden. Die offizielle Website, mit der Möglichkeit zum Download der meisten Vorträge, ist über diese URL zu erreichen.

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